RUTH ACHLAMA

Literarische Übersetzerin

Hebräisch-Deutsch 

 

 
Matan Hermoni
Matan Hermoni, Jahrgang 1969, wohnt in Tel Aviv und lehrt hebräische und jiddische Literatur an der Ben Gurion Universität in Beer Sheva. Er hat in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften publiziert. Hebrew Publishing Company, Kinneret. Zmora-Bitan. Dvir Or Yehuda 2011, 270 Seiten, ist sein erster Roman. Der Held, Mordechai Schuster, wandert zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Osteuropa nach Amerika aus und wird in New York Druckerlehrling, träumt jedoch davon, ein berühmter Autor zu werden. Eine eingehende Besprechung von Shachar Pinsker in englischer Sprache ist unter http://www.haaretz.com/culture/books/hebrew-ficition-tel-aviv-meet-the-lower-east-side abzurufen. Die nachfolgende Leseprobe gibt den Anfang des dritten Kapitels, S. 40-50, wieder.
Für Nachfragen: Ruth Achlama, E-Mail: achlama@netvision.net.il.
 
Hebrew Publishing Company
Drittes Kapitel
New York, Februar-März 1908
1
Jetzt, nach vier Jahren in New York, ist Mordechai Schuster ein Mann von fast neunzehn Jahren. Ein Anflug von Traurigkeit liegt in seinen Augen. Die Lehre seiner Mutter hat Mordechai verworfen, und die Mahnung des Vaters – die Mahnung des Vaters hat er nie vernommen. Mordechai Schuster, ein junger Mann von neunzehn Jahren, ein Anflug von Traurigkeit liegt in seinen Augen, und er spaziert gemächlich, wie ein Philosoph, durchmisst die Hester Street und den East Broadway und die Ludlow und die Orchard Street. Mordechai geht gemessenen Schritts durch die Straßen der East Side, aber in seinem Innern schlägt eine Trommel.
Arbeiten tut er noch als Druckerlehrling bei der Hebrew Publishing Company. Jeden Morgen geht er zur Druckerei am Broadway, Ecke Houston Street. Jeden Abend kehrt er zurück. Seine Kleider sind mit dem Bleistaub der Druckmaschinen übersät wie eine geschächtete Gans mit Salz, es sei zwischen den Menschen und dem Vieh wohl unterschieden. Aber wie er drei Jahre lang neben seinem Onkel Schmuel zur Druckerei und zurück zur Wohnung in der Orchard Street gegangen ist, so geht er jetzt allein, und allein kehrt er auch zurück. Nun wohnt er nicht mehr bei seinem Onkel Schmuel und bei seiner Tante Miriam, der Schwester seiner verstorbenen Mutter. Jetzt hat er ein Zimmer in der Canal Street, bei den Feigenbaums gemietet.
Wieso wohnt er nicht mehr bei seinen Verwandten? Was ist passiert? Hat man ihn hinausgeworfen? Nein. Man hat ihn nicht hinausgeworfen. Das hätte man nicht getan. Für Tante Miriam war er der einzige Verwandte, der ihr verblieben war, und Onkel Schmuel – nun der erbarmte sich über Mordechai wie ein Vater sich seines Sohnes erbarmt. Nicht zu reden von Chawale. Die Sache ist die, dass sein Onkel Schmuel, der sich seiner erbarmte wie ein Vater sich seines Sohnes erbarmt, tot ist. Tot, dahingeschieden, hat seine Seele dem Seeleneigner zurückgegeben, ist aus der Welt geschieden, er ruhe in Frieden. Das kam so. Es war mitten in der Nacht, zu der Zeit, als der Onkel Schmuel, Frieden seiner Seele, die Tante Miriam wieder mal zu dem Versuch überredete, ein weiteres Kind anstelle ihres Sohnes Levi, des toten Sohns, in die Welt zu setzen. Die Tante Miriam ist keine junge Frau mehr, aber der kleine Onkel Schmuel war Feuer und Flamme. „Glauben“, sagte der selige Onkel zur Tante Miriam, die schon die Vierzig überschritten hatte. Nach der Weise der Frauen, wie man sagt, ging es ihr noch, aber von der Macht der Lust, die sie noch vor zwei und vor drei Jahren besessen hatte, von der war nichts mehr übriggeblieben. „Glauben und Gottvertrauen“, sagte Onkel Schmuel zu Tante Miriam, und letzten Endes gab Tante Miriam seinem Drängen und Flehen nach und fand sich bereit. Um Onkel Schmuel eine Freude zu machen, zog Tante Miriam dann ein Seidenhemd an, das Onkel Schmuel ihr in Brooklyn gekauft hatte. Und Onkel Schmuel freute sich jedes Mal von Neuem. Wer Onkel Schmuel nicht sah, wenn er sich seiner Frau erfreute, hat im Leben keine Freude gesehen.
„Glauben und Gottvertrauen“, sagte Onkel Schmuel immer wieder, damit seine Frau nicht die Kräfte verließen. „Glauben und Gottvertrauen.“
Und dann war er tot. Tot, aus. Schluss mit der Affäre Onkel Schmuel, kaputt. Wie gesagt, war es etwas peinlich. Tante Miriam brach in bittere Verzweiflungsschreie aus. In grauenhafte Schreie. Aus dem Nebenzimmer eilten Mordechai Schuster und seine Cousine Chawa, Chawale, herbei und ihnen nach  auch Nachum Zobelplatz, der in Chawales Bett gelegen hatte, als Onkel Schmuel seine Seele aushauchte. Als sie nun in der Schlafzimmertür von Onkel Schmuel und Tante Miriam standen, bot sich ihnen folgender Anblick: Auf dem Bett lag Onkel Schmuel nackt und bloß, die Augen weit aufgerissen, und ein letztes Fünkchen verlosch darin. Tante Miriam trug das rosa Seidenhemd, das der selige Onkel ihr in einem Laden in Brooklyn gekauft hatte. Sie kniete neben Onkel Schmuel und schlug sich mit der Hand an Brustkorb und Busen. Tante Miriams Schreie erschütterten die ganze East Side, ja sogar die Sterne am Himmel von Manhattan. Aber der Tote war tot, und auch die Schreie seiner Frau, die sich eben jetzt in seine Witwe verwandelte, konnten ihn nicht mehr auferwecken. Und wie sich Tante Miriam in eine Witwe verwandelte, so verwandelte sich Chawale, seine Tochter, in eine Waise, und die Waise Chawale murmelte nur „oj“ und „oj wawoj“ und wieder „oj“ und „oj wawoj“, und von Zeit zu Zeit wechselte sie das „oj“ und das „oj wawoj“ aus und sagte „welche Schande.“ Und wieder, „welche Schande.“
Auf die Schreie und Hilferufe der Tante Miriam kam der findige Nachbar Lipzin ins Haus gerannt, ein Lawyer-Attorney, wie man sagt, in der Kanzlei Lipzin & Lekrichpletzl. Der Lawyer-Attorney Lipzin versuchte, das Herz des Toten zu massieren, das Herz, das stehengeblieben war. Einen Moment schien es, als zucke Schmuel und werde gleich von den Toten zurückkehren, aber nein. Es waren nur die Nerven, die in ihm noch nicht völlig abgestorben waren.
„Welche Schande“, sagte Chawale. „Welche Schande.“
„Schmuel, Schmuel“, schrie Tante Miriam, die noch neben ihm kniete, am Leib nichts als das Seidenhemd, das der Tote ihr als Geschenk in einem Laden in Brooklyn gekauft hatte. „Schmuel, Schmuel“, ihre Schreie gingen in unterdrücktes Schluchzen über.
„Bei allen Geistern und Dämonen“, sagte sich der Rechtsanwalt Lipzin, der gedacht hatte, gleich würde er den Onkel Schmuel ins Leben zurückholen. „Bei allen Geistern und Dämonen.“
„Gelobt sei der gerechte Richter“, sagte Nachum Zobelplatz in den Raum. Gelobt sei der gerechte Richter.
Und nur Mordechai Schuster stand auf der Schwelle des Schlafzimmers von Onkel Schmuel und Tante Miriam, stand da und schwieg. Stand da und blickte auf seinen Onkel, auf Schmuel, neben dem er drei Jahre lang jeden Morgen zur Druckerei der Hebrew Publishing Company gegangen war, stand da und sagte nichts.
Der Tag brach an. Die ersten Fuhrwerke rumpelten über die Straße. Juden liefen vor den engen Tenement-Häusern der East Side zusammen. Durch die Lüftungsschächte pufften die Untergrundbahnen schwarze Dampf- und Rußwolken aus. Und es wurde schon Zeit, zu den Setz- und Druckmaschinen der Hebrew Publishing Company zu gehen. Aber statt zur Druckerei zu gehen, wie sonst jeden Morgen, riefen sie die Beerdigungsbrüderschaft.
2
Was danach geschah, war im Wesentlichen dies: Onkel Schmuel hatte eine Schwester in der Stadt Baltimore. Die Schwester in Baltimore hatte ein Ladengeschäft. Da auch eine Witwe, die ohne einen Verwandten und Freier verblieben ist, sich ernähren muss, beschloss sie, zu ihren Verwandten nach Baltimore zu fahren, wo ihr ein Auskommen gesichert war. So fuhr Tante Miriam also in die Stadt Baltimore. Chawa blieb in New York. Der, der ihren Vater von dem Leben in dieser Welt entbunden hatte, entband sie jetzt von der Strafe der Mutter.
Die Tante fuhr nach Baltimore, und Chawa und Mordechai Schuster blieben in der Orchard Street 96 wohnen. Blieben einen Monat, blieben zwei Monate. Bei Tag ging Mordechai zur Druckerei, und Chawale ging zu ihrer Arbeit. Bei Nacht kam Nachum Zobelplatz. „He, Chawale, wer wird mir den Weg zu deinem Lager weisen“, flüsterte er ihr ins Ohr, und Chawa zeigte ihm den Weg zu den nicht taufrischen Leintüchern, mit denen ihr Bett bezogen war. „He, Chawale, was fesselt mich mit Ketten an dich?“, flüsterte er weiter, und Chawale lehrte ihn, was es war, das ihn mit Ketten an sie fesselte. Hey, Chawale hier, hey, Chawale dort. Jetzt ist Tante Miriam abgefahren, und was Onkel Schmuel angeht, so ist seine Seele im Garten Eden und sein Leib verwest und zerbröselt unter der feuchten Erde des East River Cemetery. Die eine ist in Baltimore, der andere im Grab, und Mordechai schläft bei ihnen im Bett.
Mordechai ist im Zimmer von Tante Miriam und Onkel Schmuel, und Chawale ist in ihrem Zimmer, wartet, dass Nachum Zobelplatz erscheint. Chawale wartet, und Mordechai liegt im Bett und raucht. Mordechai lässt seine Gedanken schweifen, und Chawales Seele steht in Flammen.
Als Nachum Zobelplatz eines Tages durchs offene Fenster in die Wohnung stieg, stellte sich Chawale vor ihn hin und sagte: „Heirate mich, Nachum. Nimm mich zur Frau, Nachum. Sag, ‚sei du mir angetraut.‘“
Nachum zündete sich eine Zigarette an. Als er die eine fertiggeraucht hatte, zündete er eine zweite Zigarette an. Als er die zweite fertiggeraucht hatte, zündete er die dritte an. Als er die dritte fertiggeraucht hatte, stand er auf und öffnete Chawales Schlafzimmerfenster. Er schwang sich auf die Feuertreppe, sprang auf die Straße und war auf und davon.
Jene ganze Nacht weinte Chawale bitterlich. Am nächsten Morgen stand sie auf und fuhr weg. Wohin sie gefahren ist? Gott weiß es. Vielleicht hat sie sich ihrer Mutter in Baltimore angeschlossen, vielleicht ist sie nach Philadelphia gefahren, vielleicht hat sie die Brücke nach Brooklyn überquert, vielleicht ist sie zu den jüdischen Anarchisten in der Stadt Winnipeg in Kanada gezogen. Ein Windstoß ist aufgekommen und hat sie hinweggefegt.
Und Mordechai blieb in der Wohnung. Ein Tag verging, zwei vergingen, drei und vier gingen ins Land, und es wurde Freitag. Der Freitag kam und mit ihm der Hauswirt, der Landlord. Der Hauswirt, der Landlord, erschien und forderte die Miete. Der Landlord forderte, aber Mordechai Schuster konnte sie nicht bezahlen. Darauf sagte ihm der Landlord: „Wer kein Geld hat, wohnt auf der Straße.“ Was blieb Mordechai Schuster übrig? Er sammelte seine paar Habseligkeiten zusammen, packte sie in einen Koffer, den Onkel Schmuel hinterlassen hatte, zog den Mantel  an und ging auf die Straße.
Auf der Straße schneite es. Im Zimmer von Dina Schmerkes war es dunkel. Mordechai stand und stand und wusste nicht, wohin. So sah ihn der findige Nachbar Lipzin, der sich bemüht hatte, den Onkel Schmuel von den Toten zurückzuholen. Sah ihn dastehen, den Koffer zu seinen Füßen. Der Nachbar Lipzin trat zu ihm und sagte: „Ich habe Verwandte in der Canal Street, die Familie Feigenbaum. Bei denen in der Wohnung steht ein Zimmer leer. Dort hat einer gewohnt und ist ausgezogen. Sie suchen einen anständigen Mieter. Wenn du eine Unterkunft brauchst, geh und wohn bei ihnen.“ Also zog Mordechai Schuster zu den Verwandten des Nachbarn Lipzin, die ein freies Zimmer in ihrer Wohnung in der Canal Street hatten. Blieb ihm denn eine Wahl?
3
Die Hauswirtin, Frau Feigenbaum, öffnete Mordechai Schuster die Tür, öffnete sie und erblickte ein neues Gesicht. Sie stand vor ihm, die eine Hand am Türpfosten ihres Hauses, die zweite in die Hüfte gestützt. „Friede sei mit Euch.“ „Auch mit Euch sei Friede.“ „Wer ist der Herr?“ „Mein Name ist Mordechai Schuster.“ „Mordechai Schuster?“ „Mordechai Schuster.“ „Und was möchtet Ihr, Herr Mordechai?“ „Mich schickt der Rechtsanwalt Lipzin“, nannte Mordechai den Namen des Nachbarn, des Verwandten von Frau Feigenbaum. „Er hat Euch geschickt?“ „Er hat mich geschickt.“ „Gut, wenn er Euch schickt, der Herr Lipzin …“, erwähnte auch Frau Feigenbaum den Namen ihres Verwandten, „wenn er Euch geschickt hat, dann kommt bitte herein.“ Als sie sah, dass er zögerte, wiederholte sie, „kommt, kommt herein.“
Mordechai Schuster trat ein und blieb in der Diele stehen, den Koffer zu seinen Füßen. Um den Tisch in der Mitte der Wohnung saßen drei Jungen: Der Große sah aus wie ein Bar Mizwa, der Mittlere mittel und der Kleine… klein. Dort am Tisch saß auch, im Hausmantel, der Vater, Herr Feigenbaum, Jerachmeel-Chmil, ein Jude mit violetter Gesichtshaut. Und ferner saß dort eine heranwachsende Tochter, siebzehn oder achtzehn mochte sie sein, kein hübsches Mädchen. Ein keusches Gesicht hatte sie, das Gesicht einer Rabbinersfrau. Sie richtete ein Augenpaar auf Mordechai Schuster, Augen von der Farbe des Wassers.
Frau Feigenbaum fasste ihn an der Schulter und sagte, „nu…“ Sie sagte „nu“, und er schwieg, denn dem „Nu“ der Frau Feigenbaum hatte er nichts entgegenzusetzen. Und so ging es, bis sie fragte: „Und zwei Dollar pro Woche für das Zimmer, die habt Ihr?“ „Ja“, sagte er freudig, „zwei Dollar pro Woche für das Zimmer, die hab ich.“ Frau Feigenbaum musterte ihn von Kopf bis Fuß. Musterte ihn einmal und noch einmal und fragte: „Und seid Ihr, Herr Mordechai, mit Verlaub zu sagen, ein Dieb?“ „Wenn ich ein Dieb wäre“, antwortete er, „hätte dann Herr Lipzin…“, und hier nannte er als Fürsprecher den Namen seines ehemaligen Nachbars, des Lawyer-Attorney, des Verwandten von Frau Feigenbaum, „wenn ich ein Dieb wäre, hätte er mich dann wohl zu Euch geschickt?“ Darauf erwiderte ihm Frau Feigenbaum: „Und wenn Ihr ein Mörder wärt, hätte er Euch nicht geschickt?“
„So ist das?“, sagte er. „So ist das“, bestätigte sie.
Nach einigem Verhandeln führte sie ihn in das Zimmer, das sie für zwei Dollar die Woche anbot. Im Zimmer sah er ein bezogenes Bett. Sah dort einen kleinen Schreibtisch an der Wand stehen. Vor dem Tisch stand ein Stuhl und in der Ecke ein Sessel.
Die Hauswirtin, Frau Feigenbaum, schaltete in Mordechais neuem Zimmer das Licht an. „Nicht schlecht für zwei Dollar, was?“
„Nicht schlecht“, erwiderte Mordechai Schuster, „nicht schlecht“, und im stillen Herzen dachte er, dass die Bettwäsche gebraucht aussah.
Die Hauswirtin, Frau Feigenbaum. sagte: „Meine Güte, ein so junger Bursche und lebt schon wie ein Präsident.“
„Ja“, erwiderte ihr Mordechai Schuster, „wie ein Präsident“, und dachte, dass es im Haus nach Stuhl und verdautem Essen roch. Er versuchte, das Fenster aufzumachen, sah aber, dass es sich nicht öffnen ließ.
„Wozu aufmachen?“, sagte die Hauswirtin, Frau Feigenbaum. „Draußen ist es kalt.“
„Ja, kalt“, erwiderte er.
Frau Feigenbaum ließ ihn nun allein in dem Zimmer, das er für zwei Dollar die Woche bei ihr gemietet hatte.
Hatte Mordechai sich bei Onkel Schmuel und Tante Miriam zu Hause gefühlt, so fühlt er sich jetzt, bei den Feigenbaums, fremd. Fremd und unbehaglich. Ja. Bei Tante Miriam und Onkel Schmuel war er Gast gewesen, hatte sich jedoch wie ein Sohn des Hauses gefühlt, aber bei der Familie Feigenbaum zahlte er ordnungsgemäß für das Zimmer und kam sich doch wie ein Fremder vor. Deshalb schlenderte Mordechai jeden Abend nach der Arbeit lieber durch die Straßen, als in das Zimmer zurückzukehren, das er bei den Feigenbaums gemietet hatte, das Zimmer, das jetzt sein Zuhause war. Mal trugen ihn seine Füße in die Wall Street und mal trugen sie ihn zum Union Square, zum Washington Square, zur Bowery oder in die Houston Street, oder er blieb vor dem Theater in der Grand Street stehen oder passierte gemächlich die Theater an der Second Avenue. Aber meist trugen ihn seine Füße zum East Broadway. Er kam in der breiten Avenue an, ging hierhin und dorthin, und wieder hierhin und dorthin. Sah er, dass es spät wurde, die Straßen sich zu leeren begannen und seine Knochen die Kälte nicht mehr ertragen konnten, machte er sich auf den Rückweg zu dem Zimmer, das er bei den Feigenbaums gemietet hatte.
Eines Abends kam er an dem Etagenhaus in der Orchard Street vorbei. Kam vorbei und sah Licht in dem Zimmer, das er mit seiner Cousine, mit Chawale, Chawaschi geteilt hatte. Licht brannte im Zimmer. Und was dachte er? Der Hauswirt hat, als Mordechai ausgezogen ist, sofort jemanden gefunden, der die Miete bezahlt, die Miete, die der tote Onkel gezahlt hat, und sogar noch einen oder anderthalb Dollar mehr pro Woche. Und was dachte er noch? Der Hauswirt ist nicht von gestern. Licht ging im Haus gegenüber an, im Fenster von Dina Schmerkes. Als er das Licht im Fenster sah, flitzte er wie eine Katze die Feuertreppe hoch. Stieg bis zum dritten Stock hinauf und stellte sich vors Fenster. Hielt vor Dinas Fenster inne und lugte hinein. Dort sah er Folgendes: Das Fenster war zweifellos ihres, aber das Zimmer nicht. Jetzt wohnten dort andere Leute. Mordechai Schuster sah die Leute, und die Leute sahen Mordechai Schuster. Das Familienoberhaupt näherte sich, ein schmaler Mann mit dünnem Haar und einem schütteren, gelblichen Bärtchen, kam auf ihn zu und machte das Fenster auf. Er blieb vor Mordechai stehen und sagte zu ihm: „Hier gibt es nichts zu stehlen, geh lieber zu anderen Leuten.“
„Ich bin nicht gekommen, um zu stehlen“, antwortete ihm Mordechai Schuster.
Der Mann, der jetzt in Dina Schmerkes‘ Zimmer wohnte, blickte Mordechai gerade in die Augen und sagte: „Wer nicht zum Stehlen kommt, kommt durch die Tür und nicht durchs Fenster.“
Da blickte auch Mordechai dem Mann mit dem schütteren strohblonden Bärtchen gerade in die Augen und sagte: „Ich suche Dina. Dina Schmerkes, die bis vor Kurzem hier gewohnt hat.“
Der Mann, der jetzt mit seiner Familie in Dina Schmerkes‘ Zimmer wohnte, sagte: „Die Tochter des Fleischers sucht Ihr.“
Und Mordechai antwortete: „Ja, sie, die Dina.“
Der Andere erwiderte: „Die vom Fleischer wohnen hier nicht mehr. Die wohnen jetzt Uptown.“
„Uptown“, sprach Mordechai ihm nach.
Der strohblonde Mann erkundigte sich bei ihm: „Und Ihr, mein Herr, seid Ihr auch ein Fleischer?“
„Nein, kein Fleischer“, antwortete Mordechai Schuster ihm.
 Darauf sagte ihm das Oberhaupt der Familie, die jetzt die Wohnung bewohnte, in der früher Dina Schmerkes gewohnt hatte, ein Mann etwa in Mordechai Schusters Alter: „Dann seid Ihr also weder Dieb noch Fleischer. Nu, das ist auch schon was.“
„Ja“, sagte Mordechai Schuster, „das ist auch schon was.“ Das ist auch schon was.
So ging er denn seines Weges von der Orchard Street zur Canal Street. Betrat das Etagenhaus, stieg die Treppen hoch und schlüpfte leise in die Wohnung der Familie Feigenbaum, die Wohnung, in der er ein Zimmer gemietet hatte. In der Wohnung war es still. Aus dem Schlafzimmer der Eheleute Feigenbaum drang Schnarchen. Auf Zehenspitzen durchquerte er die Diele, ging vorbei an dem Zimmer, in dem die Kinder schliefen, die drei Söhne und die heranwachsende Tochter, und betrat das Zimmer, das er für zwei Dollar die Woche von der Hauswirtin gemietet hatte. Im Zimmer war es dunkel. Mordechai legte die Jacke ab und hängte sie über den Stuhl, zog die Schuhe aus und stellte sie ans Bett. Streifte Hemd und Hose ab und warf sie auf den Sessel. Er behielt nur die Unterwäsche an und legte sich ins Bett. Schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Versuchte zu schlafen und konnte es nicht. Die Hochbahn fuhr über die Williamsburg Bridge. Die Untergrundbahn fuhr durch den East Broadway. Auf der Straße fuhren Fuhrwerke. Vor dem Hauseingang stand ein Betrunkener und sang.
Da  ist Mordechai. Kein Dieb und kein Fleischer. Das ist auch schon was. Da liegt Mordechai und irgendwas quält ihn. Eine Sehnsucht oder eine andere Pein. Er lag mit offenen Augen da. Wieder fuhr eine Bahn über die Williamsburg Bridge. Wieder fuhren Pferdewagen vorüber. Wieder sang der betrunkene Jude. Die Gedärme begannen ihn zu plagen. Er lag im Bett und quälte sich.
So lag und lag er und quälte und quälte sich. Der Betrunkene sang weiter. Ein zweiter Trunkenbold kam hinzu und stimmte mit ein. Sie sangen: „Ich denke an Charlie / meine Augen weinen Tränen / ich denke an  mondhelle Nächte / meine Augen weinen Tränen.“ Die Betrunkenen schmetterten zweistimmig, und Mordechai Schuster lag im Bett. Es war keine Sehnsucht, schloss er im Stillen, es waren nur die Gedärme, derentwegen er dalag und sich quälte. So lag und lag er und quälte und quälte sich, bis die Qualen überhandnahmen und er aufstand, sich anzog und die Wohnung verließ, um auf die Toilette zu gehen, die sich am Ende des Hausflurs befand. Wegen der späten Stunde standen die Nachbarn nicht Schlange vor der Toilettentür. In solcher Gnadenstunde versöhnten sich selbst die rebellischsten Gedärme mit ihren Besitzern. Die rebellischsten Gedärme, nicht jedoch die Gedärme von Mordechai. Er ging wieder in die Wohnung, leise, leise, auf Zehenspitzen, tappte zu dem Zimmer, das er von Frau Feigenbaum gemietet hatte. Er öffnete die Tür, hielt einen Moment inne, bis das Quietschen der Angeln verklungen war, und huschte hinein. Er wollte sich wieder ins Bett legen, hatte sich auch schon hingesetzt, um die Schuhe auszuziehen, und schon drohten die Lider ihm zuzufallen, und schon stand der Schlaf bereit, ihn abzuholen. Doch da bemerkte er eine Gestalt, die auf dem kleinen Sessel in der Ecke des Zimmers saß, des Zimmers, das er für zwei Dollar von Frau Feigenbaum gemietet hatte.
Also folgendermaßen. Zuerst erschrak Mordechai Schuster, erschrak und staunte. Wer stiehlt sich schließlich so mitten in der Nacht in ein dunkles Zimmer, um einen zu stören, dessen Schlaf ohnehin unruhig ist.
Bei sich dachte er: Wer schon, der Todesengel, der ist es. Dann dachte er, dass er letzten Endes ein junger Bursche war. Jung und gesund. Mit Wind im Rücken und Kraft in den Lenden. Er hatte vorerst nichts zu schaffen mit dem Todesengel. Er war ein junger Mann, und der Todesengel hatte anderes zu tun. Dann dachte er, vielleicht sei es ein Geist. Ein Dämon. Aber Mordechai Schuster ist ein rationaler Mensch. Er glaubt nicht an Geister und nicht an Dämonen. Deshalb schloss er, dass die Fantasie ihm einen Streich spielte, die Fantasie und nichts weiter. Aber das waren keine Fantasiegebilde, weder Fantasiegebilde noch Trugerscheinungen.
„Hast du sowas schon mal gesehen“, sprach ihn die Gestalt an, die auf dem Sessel in der Zimmerecke saß. „Hast du sowas schon mal gesehen, ein so junges Mädchen, und es schläft nicht.“ Und wieder sagte sie: „Hast du sowas schon mal gesehen?“ Und weiter sagte sie zu ihm, zu Mordechai Schuster: „Du bist ein höchst seltsamer Bursche, Mordechai. Ein sehr seltsamer Bursche, so wahr ich lebe. Ein junger Mann deines Alters und war noch mit keiner Frau zusammen. So wahr ich lebe“, fuhr sie fort und sagte: „Meine Güte, du bist ein komischer Bursche, Mordechai, du meine Güte, komisch und seltsam.“ Und weiter sagte sie: „Was bist du für ein Bursche, Mordechai, was für ein Mann…“
Da sagte Mordechai zu der Gestalt auf dem Sessel in der Ecke des Zimmers, das er bei der Familie Feigenbaum gemietet hatte, so sagte er zu ihr: „Erst dachte ich, es sei der Todesengel, der hier sitzt und auf mich wartet. Wäre es doch der Todesengel. Mit ihm kann man wenigstens reden wie von Mensch zu Mensch.“
Sie sagte ihm so: „Red keinen Unsinn, Mordechai, rede keinen Unsinn und werde nicht frech. Was weißt du schon vom Todesengel, was…“ Und weiter sagte sie: „Ein bisschen Anstand, Mordechai, ein bisschen Anstand.“
„Aber du, wer bist denn du?“, fragte er.
Da sagte die Gestalt, die bei ihm auf dem Sessel saß: „Verstell dich nicht, Mordechai. Verstell dich nicht und tu nicht naiv.“
Er wollte gerade erneut fragen, „wer bist du?“, aber ehe ihm die Wörter noch über die Lippen kamen, erhob sich diese Gestalt, die Gestalt, die bei ihm im Zimmer auf dem Sessel gesessen hatte, stand auf und trat zu Mordechai, der auf dem Bett saß, die Schuhe noch an den Füßen, trat zu ihm und blieb vor ihm stehen. Sie nahm mit beiden Händen seinen Kopf und schmiegte sein Gesicht an ihren Bauch, und unterdessen schob sie ihr Nachthemd hoch und brachte sein Gesicht an ihre Haut, und seine Lippen trafen auf den Bauchnabel der Gestalt, die eben noch auf dem Sessel gesessen hatte, der neben dem Schreibtisch in seinem Zimmer stand, dem Zimmer, das er für zwei Dollar die Woche mietete. „Mordechai, Mordechai“, sagte die Gestalt, „Mordechai, Mordechai, siehst du, das ist nicht der Todesengel, Mordechai. Mordechai, Mordechai, so ein komischer Bengel.“
                                                                                                                Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
 
Weitere Informationen zum Buch gern auf Anfrage