Dea Hadar
Dea Hadar, Jahrgang 1976, schreibt als Journalistin für die israelische Tageszeitung Haaretz. Ihrem 2000 erschienenen Erzählungsband, der ins Spanische und ins Arabische übersetzt wurde, folgte 2008 ihr erster Roman
Etzlenu achschaw Boker (Bei uns ist jetzt Morgen)
, Kinneret, Zmora-Bitan, Dvir-Publishing House, Or Yehuda 2008, 283 Seiten. Die Heldin des Romans ist zunächst ein Vorschulkind, dessen Entwicklung wir in einer Reihe von tragikomischen Episoden bis zum Wehrdienst in der israelischen Armee verfolgen. Die Eltern fühlen sich hin- und hergerissen zwischen Israel und den Vereinigten Staaten und nehmen die Heldin und ihre um zwei Jahre ältere Schwester Aja mit auf diese rastlose Reise zwischen Tel Aviv und New York. Dea Hadar gelingen dabei höchst lebendige Bilder einer israelischen Familie mit ihren Freunden und Kollegen, die sicher auch deutschsprachige Leser ansprechen werden.
Hier folgt meine Übersetzung des ersten Kapitels, „Die Ente und der Wolf“. Drei weitere Kapitel können bei der Agentur angefordert werden. Da zwei in Israel, zwei in den USA spielen und das vierte dieser Kapitel das vorletzte des Buches ist, vermitteln sie zusammengenommen einen guten Gesamteindruck.
Agentur: Agentur Simon, Ansprechpartnerin Julia Dösch, E-mail: doesch@agentursimon.com
Dea Hadar: Bei uns ist jetzt Morgen
Kinneret, Zmora-Bitan, Dvir-Publishing House, Or Yehuda 2008
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Die Ente und der Wolf
Ich finde die Maus zufällig, sie liegt im Garten unter einem quadratisch gestutzten Busch. Erst sieht sie mir braun aus, dann grau, schwer zu sagen, ob sie braun oder grau ist. Ihr Bauch regt sich nicht. Ich tippe ihn nur mit der Fingerspitze an, und er ist hart wie ein Gummireifen mit weichen Haaren dran. Ich streichle der Maus den Bauch und hebe sie hoch. Ihre Augen stehen ein Stückchen offen. Ich spähe in die Schlitze und sehe nichts. Ich lege sie behutsam neben mich, reiße ein paar Grashalme und Wurzeln aus und buddle in der Erde. Ich lege die Maus in die Grube. Tom steht dabei. Er ist größer als ich und hat große, abstehende Ohren. Die Sonnenstrahlen hinter ihm machen sie rötlich und ein bisschen durchsichtig, und man sieht die feinen Äderchen darin.
„Was machst du da?“
„Guck mal, was ich gefunden habe. Sie ist tot.“
Tom erzählt mir, dass das Gift die Maus getötet hat.
„Was für Gift?“
„Hast du den Anschlag nicht gesehen?“
„Was für einen Anschlag?“
Tom sagt, dass er den Anschlag in unserem Hof abgerissen und über sein Bett gehängt hat. Ich soll es aber bitte niemand verraten. Dann sagt er, „komm mit“, und führt mich zum Eingang des Nachbarhauses. Er zeigt mir den Anschlag mit dem Totenschädel und den zwei gekreuzten Knochen neben der Sprechanlage. Ich reiße ihn ab.
Tom erzählt mir, dass das Gift die Maus getötet hat und auch mich töten kann. Dass das Gift überall ist. Gift im Himmel. Gift an den Fingern. Gift unter der Nase. Gift wächst auf den Bäumen. Gift schwimmt im Meer. Gift, das alle umbringen könnte, was aber egal ist, weil zum Schluss sowieso alle sterben. Ich sage ihm, dass nicht alle sterben.
„Alle“, versteift er sich, „al-le.“
„Meine Mama wird nicht sterben.“
„Deine Mama wird sterben. Gewiss wird sie das.“
„Halt die Klappe, du Schlappohr“, sage ich, und er nennt mich Schwachkopf und verschwindet.
Zuhause verrate ich Aja, was ich über Mama gehört habe.
„Mama stirbt nicht“, versichert sie.
„Tom sagt, dass sie gewiss sterben wird.“ Ich erzähle ihr von dem Gift.
Aja sagt, man muss Mama fragen. Wir warten, dass sie von der Probe nach Hause kommt. Dauernd ist Mama bei Proben. Sie soll bei einer neuen Aufführung mitmachen. Sie wird die Esthel sein. Bis vor zwei Wochen haben sie und ihre Freundin Ada im Wohnzimmer gesessen und gemeinsam rezitiert. Auch Ada wollte die Esthel spielen. Also war mal Mama Esthel und Ada jemand anders, und dann wurde Ada Esthel und Mama jemand anders. In den Pausen zündeten sie sich eine Time an und redeten über Johann. Ich hab sie gefragt, wer Johann ist, und Ada hat gesagt, er ist ein Regisseur und es ist eine große Ehre, bei seiner Inszenierung mitzuspielen.
„Es heißt von ihm, dass er Dinge aus dir rausholt, von denen du gar nicht wusstest, dass du sie in dir stecken hast“, hat sie gesagt und Mama dabei angesehen.
Sie haben den Text gemeinsam einstudiert und einander versprochen, dass sich zwischen ihnen nichts ändern wird, egal, wer die Rolle bekommt. Als Mama mich eines Tages vom Kindergarten abholte, sagte sie, sie würde die Esthel spielen, und dann sind wir Schuhe kaufen gegangen.
Endlich kommt Mama heim. Sie gibt uns beiden einen Kuss auf den Kopf und zieht dann die Sandalen aus, die mit den langen Riemen, die ihr das halbe Bein rauflaufen. Sie macht uns Abendbrot. Wir essen Rührei mit hübschen Tomatenscheiben und fragen nicht. Mama sitzt vor leerem Teller ohne Messer und Gabel und guckt uns zu. Das Telefon klingelt, und sie läuft hin. Aja springt auf. Schon fünf Tage hat Papa nicht mehr aus Amerika angerufen. Mama kommt gleich zurück.
„Wer war das?“, fragt Aja.
„Falsch verbunden“, antwortet Mama und zündet sich eine Zigarette an.
Dann lässt sie die Badewanne einlaufen, und als sie halbvoll ist, ruft sie uns. Mama hat vergessen, den Schaum reinzutun, und Aja meint, jetzt wär‘s zu spät dafür. Wir ziehen uns aus und setzen uns geduckt ins Wasser. Ich komme mir nackter vor ohne die Seifenblasen. Hab gar keine Lust, Wasser in den Mund zu nehmen und Aja damit anzusprühen, tu’s aber trotzdem. Diesmal schreit Aja mich nicht an. Mama seift ihr mit ausholenden, runden Bewegungen den Rücken ein. Sie kitzelt sie in den Achselhöhlen, Aja mag das nicht.
„Mama, stirbst du bald?“, fragt sie.
„Warum soll ich denn sterben?“, fragt Mama zurück. „Wo hast du den Unsinn her?“
„Tom hat‘s mir gesagt“, platze ich heraus. „Im Garten ist Gift. Alle werden sterben.“
Mama lacht und meint, das ist reiner Blödsinn. Nun frage ich sie auch, ob sie bald stirbt, und sie sagt, ach was, und seift mir die Achselhöhlen ein, und als alles seifenglatt ist, kitzelt sie mich dort mit dem Zeigefinger. Ich lache, obwohl nichts lustig ist, außer der Achselhöhle. Aja sagt, wir sollen aufhören.
„Tom hat gesagt, dass du ganz gewiss stirbst“, beharre ich, und Mama schwört, dass sie ein Wort mit Naomi reden wird, wenn Tom uns weiter solche Angst einjagt.
„Stirbt Toms Mama auch?“, frage ich.
„Ich werde nicht sterben, Naomi wird nicht sterben, und auch sonst keiner.“
Aja fragt Mama, was mit Menschen geschieht, wenn sie sterben. Mama hält inne und reibt mir dann dieselbe Achselhöhle noch einmal aus. „Was geschieht, wenn man stirbt…“, sie schweigt einen Moment, „wenn man stirbt, verwandelt man sich in einen Stern. Jeder wird ein Stern.“
Aja sagt nichts. Ich fange an zu weinen. Meine Tränen tropfen in die Badewanne. Ich meine, in einer großen Träne zu ertrinken.
„Was ist denn? Alle wollen doch Sterne werden“, versucht Mama zu trösten.
Ich sage, ich will keine Glatze kriegen, und sie sagt, ich soll aufhören zu flennen. Jeder wolle ein Stern werden, und außerdem sollten wir uns ganz toll freuen, denn morgen gingen wir ins Theater.
Am nächsten Mittag zieht Mama Aja eine weiße Hemdbluse und einen blauen Jeansrock an und mir das Gleiche, aber drei Nummern kleiner, obwohl ich nur zwei Jahre jünger bin. Aja geht packen. Sie nimmt ihre Basttasche, auf die Mama ein A gestickt hat, und lädt sie voll: Teddy. Geldbeutel. Taschentuch. Eine alte Münze mit einer Königin drauf. Sie sucht ihren Seestern.
„Nimm nicht den ganzen Hausstand mit“, ruft Mama und geht ins Schlafzimmer. Sie zieht sich aus, steht mit dem Rücken zu mir in weißem BH und Slip da und holt ein gelbes Kleid aus dem Schrank. Es ist mit braunen Blättern bedruckt und hat solche Puffärmel wie Schneewittchen. Sie streift es über und setzt sich vor den Spiegel. Ich setze mich neben sie. Mama zieht einen hellbraunen Buntstift aus der Schublade und fängt an, sich kleine Sommersprossen auf die Nase zu malen. Ihre Hand tupft nur ganz leicht hin und flüchtet wieder, um noch einen Punkt zu setzen. Mamas Miene ist ernst, und ihre grauen Augen kommen sich näher.
„Was machst du da?“, frage ich.
„Sommersprossen.“
Ich will wissen, warum, und sie sagt, sie wäre immer gern rothaarig gewesen. Nicht flammend rot, nur ein bisschen rot mit ein paar Sommersprossen. Mama erzählt, bei meiner Geburt hätte ich kein einziges Haar auf dem Kopf gehabt. Kahl wie ein Stern war ich da. Aja nicht. Sie ist mit ganz vielen schwarzen Haaren auf dem Kopf zur Welt gekommen, solchen wie Papa sie hat.
„Als du vier Monate alt warst und ich mit dir im Park war“, erzählt Mama weiter, „habe ich in der Wintersonne auf einmal so einen zarten Flaum entdeckt, wie auf einem Pfirsich, mit einem kleinen Rotschimmer drin, und zu Hause hab ich später zu Itamar gesagt, dass wir einen Rotschopf haben.“
Ich besehe mir mein Haar im Spiegel. Es ist braun wie die Maus.
Mama malt ihre Sommersprossen fertig. Ich nehme den Stift und fange an, mir auch welche zu machen. Sie werden dunkler und größer als Mamas. „Möchtest du auch welche haben?“, fragt Mama und lächelt. „So macht man das nicht.“ Ich male ungerührt weiter, bis sie sagt, jetzt wären es genug.
„Man braucht nur fünf bis sechs, allerhöchstens sieben“, erklärt Mama. Sie leckt den Zeigefinger an und rubbelt mir damit die Nase ab, bis alle Sommersprossen weg sind, und dann macht sie mir blitzschnell kleine, helle Punkte. Ich lache und sie auch, und dann sagt sie, ich soll stillhalten, weil die Sommersprossen sonst nicht gut werden, aber sie werden so perfekt wie ihre. Ich betrachte sie mir im Spiegel.
„Komm, wir sind spät dran“, sagt sie und legt den Stift wieder in die Schublade. „Das ist unser Geheimnis, abgemacht?“
Ich mache Ja mit dem Kopf. „Wer weiß sonst noch von den Sommersprossen?“, frage ich, und sie sagt mir, keiner. Nicht mal Papa.
Aja steht auf der Schwelle, mit der Tasche in der Hand. Wir drei gehen die Treppen runter und nach draußen. „Ich hab ja einen Platten!“, ruft Mama und geht vor ihrem grünen Fahrrad in die Hocke. Sie betastet den Reifen. Am Fahrrad ist Gift. Ich will ihr sagen, sie soll’s nicht anfassen, sage aber nichts, und sie kneift weiter den Reifen. „Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt, dieser Platten“, schimpft sie.
Es ist schon fast eins. „Wir kommen zu spät zur Vorstellung. Wir müssen uns beeilen“, drängt Aja.
Mama nimmt Ajas rechte Hand und meine linke. Hand in Hand in Hand. Gift an Gift an Gift. Wir gehen schnell. Mama redet weiter über die Luft und den Reifen. Es tut ihr leid um das Fahrrad.
„Du hast Gift an dir“, sage ich zu ihr.
„Wieso Gift, wovon redest du denn?“
Ich erkläre ihr, dass am Fahrrad Gift ist. Dass überall Gift ist. Ich bitte sie, sich die Hände mit Seife zu waschen, wenn sie zur Probe kommt. Dann erkläre ich es ihr noch einmal, und sie verspricht es.
„Mit Seife. Mit viel Seife“, beharre ich.
„Mach dir keine Sorgen, ich werde mir die Hände ganz gründlich mit Seife waschen“, verspricht sie. „Wisst ihr, was für ein wunderbares Stück ‚Peter und der Wolf‘ ist?“
Wir kommen an eine rote Ampel. Mama lässt uns los und fasst ihr Haar zusammen. Es ist lang und glänzend. Sie kämmt die braunen und roten Wellen mit den Fingern und schlingt sie zum Knoten. Sie sieht hübsch aus. Das Gift ist an ihrem Haar. Sie packt meine Hand zu fest. Ich denke, sie hat Angst vor Johann. Ich sage ihr, jetzt muss sie sich auch den Kopf waschen, und sie sagt, in Ordnung. Ich glaube ihr nicht. „Mit Shampoo“, sage ich, und sie antwortet, „ja, okay. Sorg dich nicht so. Weißt du, dass Ada in eurem Stück mitspielt?“
Wir haben Ada schon mal im Theater gesehen. In „Schneewittchen“, da war sie die böse Hexe und hat Schneewittchen einen roten Apfel mit Gift dran gegeben. Hinterher, bei Nacht, hat Aja mir gesagt, wenn sie mal groß ist, wird sie auch Schneewittchen, weil sie genauso schwarzes Haar und so ein weißes Gesicht hat. Ich hab ihr gesagt, Schneewittchen hat aber keine Locken, und sie hat gemeint, das ist unwichtig. Ich hab sie gefragt, ob Ada wirklich eine böse Hexe ist, und sie hat geantwortet, sie glaube es nicht, aber man könne nicht sicher sein, weil es tatsächlich Hexen auf Erden gibt, und manchmal würden sie wie normale Frauen aussehen. Als ich Ada selbst gefragt habe, ob sie wirklich eine Hexe ist, wollte sie nicht darüber sprechen und hat sich eine Zigarette angezündet. Später hat mir Mama erzählt, dass Ada solche Gelegenheitsjobs hasst.
„Als was tritt Ada auf?“, frage ich.
„Ich meine, sie hat gesagt, dass sie den Vogel spielt“, antwortet Mama. „Nein, nein, sie ist die Ente. Sie wollte eigentlich den Vogel spielen, aber ich meine, das hat letzten Endes nicht geklappt. Ada ist die Ente.“ Mama tätschelt mir den Kopf. Das Gift ist auf meinem Kopf. Ich weiß, sie wird sich nicht den Kopf waschen, obwohl sie‘s mir versprochen hat. Sie hat gar kein Shampoo dort bei den Proben. Und wenn Johann sie dann anschreit, steckt sie ein paar lose Haare in den Mund, wie immer, wenn sie nicht weiß, was sie machen soll. Und dann stirbt Mama.
Wir kommen beim Zawta-Theater an und bleiben am Eingang stehen. Drinnen sind viele Kinder mit Eltern, draußen weniger. „Wo bleibt denn Chanoch?“, fragt Mama nervös. „Er hat gesagt, er würde hier auf uns warten.“
„Wir müssen Chanoch finden“, sagt sie. Mama fragt den Mann mit den Eintrittskarten, ob er Chanoch rufen kann, und der murmelt was in sein Walkie-Talkie. Stille. Plötzlich hört man Chanochs Stimme im Gerät, „ich komme.“
Wir warten auf Chanoch. Mutter gibt Aja Geld, um in der Pause zwei Schokowaffeln der Sorte
Tuv Ta’am – „Guter Geschmack“, und zwei Safttüten Marke Tropit zu kaufen. Aja tut das Geld in ihren glänzenden chinesischen Geldbeutel. Der stammt von Ada. Sie hat ihn Mama mal aus London mitgebracht, und Mama hat ihn Aja weitergeschenkt, weil Kunstseide ihr eine Gänsehaut macht. Aja steckt den Geldbeutel in die Tasche, und Mama warnt sie, ihn nicht zu verlieren, in all dem Krimskrams, den sie da mitschleppt.
Chanoch kommt. Seine Augen funkeln grün, und sein Gesicht ist glatt. Jetzt sieht man sein kahles Herz nicht mehr. Früher, als er noch kurze Haare hatte, sah man es, eine kleine, herzförmige Glatze an der linken Seite. Einen Abend, als Chanoch bei uns war, hab ich mich neben ihn gestellt und es mir aus der Nähe angeschaut. Sein Haar war dicht, aber das kleine Herz war spiegelglatt. Ich ging ins Zimmer und kam mit lila Tusche zurück ins Wohnzimmer. Ich wollte das Herz anmalen, ohne die Kopfhaut anzufassen. Ich schlich mich an.
„Was machst du da?“, fragte Mama.
„Ich will‘s anmalen“, antwortete ich. Chanochs Gesicht regte sich nicht.
„Was mach ich bloß mit ihr“, hat Mama gemurmelt und mich auf mein Zimmer geschickt. Für heute hätte sie genug von mir, erklärte sie. Am nächsten Tag sagte sie mir, ich sollte diese kahle Stelle nie mehr erwähnen.
Jetzt ist Chanochs Haar länger und braun und fällt ihm in die Stirn, und er trägt Jeans, die ein bisschen zu weit sind, und einfache Kibbuz-Sandalen, und man kann nicht erraten, dass er ein kahles Herz unter den Haaren hat.
Chanoch geht schnurstracks auf Mama zu. „Zucker!“, ruft er sie. „Schön, dass ihr da seid.“
Ich habe Mama mal gefragt, warum Chanoch sie Zucker nennt. Darauf erklärte sie,
Zucker ist das jiddische Wort für Bonbon, und Chanoch hat gleich nach seiner Wehrentlassung mit ihr am Jiddischen Theater gespielt, und da nannte der Regisseur sie so und alle anderen taten es ihm nach. Trotzdem hab ich nicht kapiert, warum er sie Zucker nennt. Einmal haben wir Chanoch lange nicht gesehen. Dann kamen eines Abends Polizisten zu uns und haben Mama ganz viele Fragen nach ihm gestellt. Mama hat ihnen Rotwein in Brausegläsern und saure Gurken angeboten und geschworen, dass sie nichts weiß.
Chanoch blieb weiterhin weg. Ich hab Mama gefragt, was mit ihm los ist, und sie hat gesagt, er sitzt im Gefängnis. Aja wollte wissen, was er ausgefressen hatte, und Mama erklärte, Chanoch hätte betrogen. Chanoch hat Mama viele lange Briefe aus dem Gefängnis geschickt. Manchmal fuhr sie hin, um ihn dort zu besuchen. Als er entlassen war, sagte Mama, nun betrügt er nicht mehr und wird’s auch nie mehr tun. Chanoch hätte seine Lektion gelernt. Sie verschaffte ihm einen Job als Bühnenarbeiter im Zawta. Chanoch kam wieder Mama besuchen. Auch ihm setzte sie Rotwein und saure Gurken vor. Chanoch brachte immer was mit. Ihr hat er Parfüm geschenkt, an dem sie mich schnuppern ließ, und dünne Bücher mit Bühnenstücken und Flaschen mit Alkohol. Die hat sie aufgemacht und daraus zwei Gläser eingeschenkt, und dann haben sie angestoßen und
le-Chaim gesagt. Sie meinte, er hätte ihr doch nichts zu kaufen brauchen, und er antwortete immer, „das hast du verdient, Ora.“
„Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr“, sagt Chanoch schnaufend und ergreift ihre Hand. „Wohin warst du mir denn abhanden gekommen?“
„Ich bin sehr beschäftigt. Gibt’s Plätze für die Mädchen?“, fragt Mama.
„Es ist brechendvoll hier, aber keine Sorge. Ich bring sie ruck-zuck unter. Was, du bleibst nicht?“
„Nein, ich komm jetzt schon zu spät zur Probe.“
Chanoch sieht enttäuscht aus. „,Vatertag‘?“
Sie macht Ja mit dem Kopf und sieht auf die Uhr.
„Schade, Zucker.“
„Ich weiß, aber ich muss los. Sonst bringt Johann mich um.“
„Nächstes Mal kommst du aber mit.“
„Abgemacht.“ Mama umarmt uns und geht. Chanoch spricht was ins Walkie-Talkie. Wir warten. Aja hält mich an der Hand.
„Okay, Mädels, mir nach“, Chanoch winkt uns zur Tür. Der Mann dort gibt uns zwei Programmhefte und zwei Karten, und wir gehen rein. Ich schau mich noch nach Mama um, und sie winkt uns auf Wiedersehen. Wir winken zurück. Auch Chanoch.
„Zeig’s ihm!“, ruft er ihr nach.
Mutter entfernt sich schnell.
Chanoch nimmt uns an der Hand. Chanoch hat Gift an sich. Hatte er schon vorher, und jetzt hat er noch was von Mama dazu und sie von ihm. Seine Hand ist kalt und hart. „Ihr müsst wissen, Mädels, das ist eine tolle Aufführung von ‚Peter und der Wolf‘. Diesmal haben wir uns wirklich selbst übertroffen“, schwärmt er. Dann fängt sein Walkie-Talkie an zu plärren. „Chanoch, Chanoch, hörst du? Du wirst hier dringend gesucht.“
„Ich komme“, spricht Chanoch in das Gerät.
„Mädels, ich muss weg“, sagt er und lässt unsere Hände los. „Viel Spaß. Wenn ihr mich braucht, bin ich da.“
Chanoch verschwindet.
Wir steuern das Büffet an. Dort steht keine Schlange mehr.
„Wir müssen uns die Hände waschen. Wir haben Gift dran“, sage ich zu Aja. Wir wandern Hand in Hand herum, suchen die Toiletten. Wir finden sie und gehen rein. Ich komme nicht an die Flüssigseife, Aja drückt zweimal und lässt die Hälfte der rosa Pfütze von ihrer hohlen Hand in meine gleiten. Wir waschen uns gründlich die Hände. Dann stelle ich mich auf die Zehenspitzen und halte den Kopf unter den Wasserstrahl im Waschbecken.
„Was machst du denn?“
„Ich hab Gift am Kopf“, erkläre ich. „Du hast auch welches. Mach’s wie ich.“
„Will nicht. Komm schon, du Meschuggene.“ Sie zieht ein Taschentuch aus der Basttasche und trocknet mir das Gesicht ab. Ich betrachte mich im Spiegel. Meine Sommersprossen sind weg. Wir verlassen die Toiletten und hasten zum Büffet.
„Mama hat gesagt, wir sollen die Süßigkeiten in der Pause kaufen“, erinnert mich Aja.
„Ich will sie jetzt haben.“
„Gut“, willigt sie ein.
Ich sehe die kleine Milli mit ihrer Mama am Büffet stehen. Sie hat einen Reifen mit Kirsche im Haar. Vor ein paar Tagen ist sie damit im Kindergarten erschienen, und ich wollte ihn klauen, wusste aber nicht, wie ich ihn ihr vom Kopf ziehen sollte. Auch jetzt steckt er fest in ihren gelben Haaren, die glatt bis zu ihrem kleinen Popo herabfallen. Ihre Mama bezahlt eine Dose Cola.
„Guten Tag, ihr Süßen“, sagt sie und guckt mich von unten bis oben an. „Warum ist dein Kopf so nass?“
„Ist er halt.“
„Wo ist Mama?“
„Sie ist nicht da“, antwortet Aja.
Die Mama der kleinen Milli schaut uns weiter an.
„Na prima. Genau wie große Mädchen“, sagt sie. Dann möchte sie uns auch zu einem Getränk einladen.
„Nein danke. Mama hat uns Geld gegeben.“ Aja holt es hervor.
„Ja, wir haben viel Geld“, bekräftige ich. Millis Mama wünscht uns viel Spaß in der Vorstellung, und die beiden eilen hinein. Aja bittet den Mann hinter der Theke um zwei Tropit und zwei
Tuv Ta‘am. Sie hält ihm den Geldschein hin und steckt die Münzen, die er ihr zurückgibt, in den Geldbeutel. „Nun komm schon, es geht los“, ruft sie mich. Wir nehmen die Süßigkeiten und rennen in den Saal. Alle sind schon drinnen. Der Saalordner führt uns zu unseren Plätzen. Wir sind in der neunten Reihe. Die Vorführung hat noch nicht angefangen. Wir setzen uns auf die Polsterstühle. Zwischen den zwei Sitzen in der Reihe vor uns ist ein Spalt. Den wollen wir beide haben. „Das ist meiner“, bestimmt Aja. Ich stecke schnell mein Bein dazwischen, und prompt legt Aja ihr Bein auf meines. Ich hebe das zweite Bein an und senke es auf ihres, dann packt sie das letzte Bein obendrauf. Vier dünne Beine liegen aufgetürmt, wollen wieder loskommen. Wir lassen sie nicht. Ich will den Spalt nicht aufgeben und Aja auch nicht. Wir lachen.
Ein fremder Ellbogen stößt meinen Knöchel zur Seite. „Entschuldigt mal, das stört mich“, platzt die Frau, die vor uns sitzt, heraus. „Mädels, nehmt bitte die Beine da runter.“ Sie putzt sich nervös den Ärmel ab, obwohl überhaupt nichts dran ist. Unsere Beine rühren sich nicht. „Also wirklich, Mädels, ich werde euch kein zweites Mal bitten. Wir sind hier nicht im Busbahnhof.“ Die Beine ziehen sich zurück, eines nach dem anderen.
„Wir müssen uns wie Große benehmen“, sagt Aja und fängt an, das Programm vorzulesen. „‚Peter und der Wolf‘. Dieses musikalische Märchen wurde im Jahr eins neun drei sechs vollendet.“ Aja liest gern. Sie findet es toll, wenn Leute sie lesen hören und ihr sagen, dass sie doch noch so klein ist, kaum zu glauben, dass sie da schon lesen kann, und dann erzählt sie ihnen, dass sie seit Jahren liest und schon so gut wie eine Drittklässlerin, obwohl sie noch in die erste Klasse geht.
„Jede Märchengestalt wird durch ein bestimmtes Motiv und ein für sie charakteristisches Musikinstrument vorgestellt… Die Flöte nimmt sich des zwitschernden Vögelchens an“
[1], liest sie aufmerksam mit lauter Stimme weiter. Kein Mensch hört ihr zu. „Die Oboe spielt das Motiv der watschelnden Ente. Die auf Samtpfoten schleichende Katze erkennen wir im dunklen Ton der Kla-ri-net-te wieder“, müht sie sich ab.
„He, Mädels“, ruft Chanoch auf einmal. Er steht am Ende der Reihe und drängelt sich zu uns durch. „Wie seid ihr zurechtgekommen, alles in Ordnung?“
„Ja, und ich lese ihr die Geschichte vor“, prahlt Aja.
„Sind Sie der Vater der beiden?“, fragt die Frau von vorn.
„Nein“, antwortet Aja rasch.
Chanoch hat zwei rote Hähne am Stiel in der Hand. Er gibt mir einen und Aja einen und sagt, „gleich fängt die Vorstellung an, viel Vergnügen“, und verschwindet, ehe die Frau petzen kann.
Ich reiße die Plastikhülle von meinem Hahn und stecke ihn in den Mund, dann bohre ich den Trinkhalm in den Saftbeutel und nehme einen Schluck.
„Hörst du zu?“, fährt Aja fort. „Das ist wichtig. Jetzt der Großvater. Den Part des Großvaters spielt das Fagott, in bedächtigem Ton.“
„Was ist ein Fagott?“
„Wenn du zuhörst, wirst du’s erfahren! Der Wolf wird von wütend drohendem Hörnerklang begleitet, Peter fröhlich und beschwingt von den Geigen.“ Ich verstehe gar nichts. Ich verrate es ihr nicht.
„Und die Gewehrschüsse der Jäger von Pauke und großer Trommel“, endet sie. Die Lichter gehen aus.
„Was ist mit der Gans? Mama hat gesagt, Ada ist eine Gans“, frage ich.
„Es gibt keine Gans. Es gibt eine Ente“, flüstert Aja im Dunkeln.
„Dann ist Ada eine Ente?“
„Sch“, macht die Frau vor mir. Ihr Kopf ist schrecklich groß. Ich kann die Bühne nicht richtig sehen und klettere auf den Sitz. Jemand hinter mir zupft mich an der Bluse. Ich verliere beinah das Gleichgewicht.
„Also wirklich, jetzt setz dich doch hin“, faucht ein Mann hinter mir, den ich nicht sehen kann. Ich setze mich auf meinen Platz.
„Man darf nicht auf den Stuhl steigen“, flüstert mir Aja zu.
Der Erzähler fängt mit tiefer Stimme an zu reden. Ich sehe nicht, wo er ist. Er erzählt das, was Aja mir vorgelesen hat. Nun strahlt ein weißer Scheinwerfer den Zaun auf der Bühne an. Hinter dem Zaun steht ein junger Mann.
„Früh am Morgen öffnete Peter die Gartentür und trat hinaus auf die große, grüne Wiese“, sagt der Erzähler. Ich höre Peters Motiv. Dann hüpft Peter auf die Bühne, ganz aufrecht, pfeift seine eigene Melodie. Peter ist groß. Ich hatte gedacht, er würde meine Größe haben, aber er ist sogar größer als Tom. Grünes Licht lässt den Baum erstrahlen. Auf einem dicken Ast sitzt eine junge Frau. Ich höre eine Flöte. Die Frau trägt ein kükengelbes, enganliegendes Ganzkörpertrikot. Sie hat einen Schnabel und einen Hahnenkamm und einen blonden Pferdeschwanz. Ich meine, ich hätte den Vogel schon mal im Fernsehen gesehen. „Wie still es ringsum ist!“, ruft die Frau und zwitschert.
„Aus dem Gebüsch am Zaun kam eine Ente angewatschelt.“ Aja hat recht gehabt. Es gibt eine Ente. Ich sehe Ada auftreten. Sie trägt ein weißes Federkleid. Sie hat eine weiße Bademütze auf dem Kopf und einen orangefarbenen Entenschnabel und die Augen einer Hexe. Sie geht breitbeinig auf die blaue Tafel mit den Wellen zu. Der Vogel hüpft herunter auf die Wiese und zupft sie an der Schulter. „Was bist du für ein Vogel, wenn du nicht fliegen kannst?“, will das Vögelchen von Ada wissen.
„Was bist du für ein Vogel, wenn du nicht schwimmen kannst?“, gibt Ada zurück und taucht hinter der blauen Tafel ab. Jetzt sieht man nur noch den Kopf von ihr.
Mama ist sicher schon bei der Probe. Vielleicht ist sie zu spät gekommen, und Johann hat sie angeschrien, und dann hat sie vergessen, sich die Hände zu waschen. Klar hat sie das vergessen. Nix mit Wasser und Seife. Sicher hat sie sich noch zwei Minuten ausgebeten und dann ihre zerknitterten Blätter aus der großen Tasche gezogen, hat ihren Zeigefinger angeleckt und angefangen, schnell die Seiten umzublättern und sich selbst vorzulesen. Das Gift ist ihr in den Mund gekommen. Mein Bein hebt sich in die Luft und landet wieder in dem Spalt. Die Frau mit dem großen Kopf gibt ihm einen Klaps und dreht sich zu mir um. Obwohl es dunkel ist, sehe ich, dass sie stinkwütend ist.
Eine fette Katze stielt sich durch die roten Vorhänge. Sie geht auf allen Vieren, nicht wie Ada, obwohl sie auch ein Tier ist. „Der Vogel streitet sich mit der Ente, da werde ich ihn mir gleich fangen“, verrät uns die Katze und schleicht lautlos auf ihren schwarzen Samtpfoten näher.
„Hüte dich!“, ruft Peter.
Der Vogel klettert schnell einen Ast höher. Ich sehe Ada hinter der blauen Tafel stehen, genau in der Mitte. Die Oboe schluchzt. Ada quakt. Sie scheint böse zu sein. Ich mache ihr Winke-Winke, aber sie winkt nicht zurück.
„Sie kann uns nicht sehen“, flüstert Aja.
Die Katze geht um den Baum herum. „Lohnt es sich, so hoch hinaufzuklettern?“, fragt sie. „Wenn ich oben bin, ist der Vogel doch schon weggeflogen.“
Plötzlich betritt ein Alter mit Gehstock die Bühne. Das ist der Großvater. Der Großvater sieht russisch aus. Er hat einen langen, weißen Bart. Er ärgert sich über Peter, der auf die Wiese gegangen ist und die Gartenpforte offen gelassen hat. „Das ist gefääährlich!“, sagt er. „Wenn nun der Wolf aus dem Walde kommt, was dann?“, fragt er Peter und wendet sich uns zu. Aber Peter achtet nicht auf des Großvaters Worte. Jungen wie er haben doch keine Angst vor dem Wolf oder vor einem kahlen Herz oder vor Gift.
Mein Kopf hat mir den Rücken feucht gemacht. Die Bluse klebt mir am Rücken. Ich klebe am Sitz. Ich löse mich ab. Ich weiß, dass Mama sich nicht den Kopf gewaschen hat. Ich stelle mir vor, wie sie ihre erste Zeile deklamiert und dann noch mehr Zeilen aufsagt. Und dann macht sie einen Fehler und Johann wird böse und sie steckt die Haare, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst haben, in den Mund und rollt sie auf der Zunge.
Furchterregende Musik dringt aus den Lautsprechern.
„Mama hat Gift an sich“, flüstere ich Aja zu.
„Hat sie nicht“, flüstert Aja zurück und sieht geradeaus.
„Was ist, wenn sie stirbt?“
„Sie hat versprochen, dass sie nicht stirbt. Ruhe. Ich will zuschauen.“
Ich kicke an den Vordersitz, und dann nochmal mit aller Kraft. Die Frau dreht sich zu mir um. „Wenn du den Unfug nicht lässt, rufe ich den Saalordner“, droht sie.
Der Großvater zerrt Peter zur Seite, hinter den Zaun. Er schließt die Gartentür, und eine Sekunde später läuft ein großer, grauer Wolf auf die Bühne. Der Wolf guckt uns an.
„Warum guckt er gerade uns an“, frage ich Aja.
„Er guckt alle an“, erklärt sie.
Die Katze klettert flink auf den Baum. Ada quakt wie verrückt und springt zum vorderen Bühnenrand. „Bitte, lieber Wolf, friss mich nicht!“, fleht sie.
Der Wolf packt Ada fest an ihren flaumigen Armen. Er schüttelt sie und tut so, als würde er ihr den Kopf abbeißen. Dann flüchtet sie hinter seinen Rücken, kriecht auf allen Vieren durch die roten Vorhänge und verschwindet hinter der Bühne.
„Der Wolf hat Ada gefressen!“
„Nicht wirklich“, erwidert Aja.
„Ich weiß. Ist Mama okay?“
„Ja.“
Ich quetsche ihr die Finger zusammen. „Auuu, das tut weh“, schreit sie auf. „Lass uns zuschauen. Ich will nichts verpassen.“
Der Wolf geht um den Baum herum, und dann starrt er uns mit gierigen Blicken an. Ich höre einen grausigen Ton. Ich vergrabe mein Ohr an Ajas spitzer Schulter. Inzwischen ist Peter ins Haus an der Seite gelaufen. Er kommt mit einem dicken Seil wieder raus und klettert auch auf den Baum. „Flieg hinab und dem Wolf immer dicht an der Nase vorbei. Aber sei vorsichtig, dass er dich nicht fängt!“, ruft er dem Vögelchen auf dem hohen Ast zu.
Der Wolf springt wild auf der Bühne herum. Trommeln schlagen. Geigen fiedeln. Sein Fell sieht dreckig aus. Er hat Gift an sich. Mama hat Gift an sich. Ihr dreht sich der Kopf. Sie sagt weiter die Zeilen auf, die sie und Ada auswendiggelernt haben.
„Ich will mehr Energy“, bellt Johann sie an.
„Mama hat Gift an sich, wir müssen ihr helfen“, ich zupfe Aja am Ärmel.
„Man darf nicht mittendrin rauslaufen. Ich hab’s Mama versprochen“, schnauzt Aja und schüttelt mich ab. Ich warte auf die Pause, die nicht kommt.
Ich sehe Peter eine Schlinge ins Seil machen. „Wolf, pass auf!“, schreit ein Kind aus dem Publikum, aber der Wolf achtet nicht drauf, und schon fängt Peter ihn am Schwanz und zieht die Schlinge mit aller Macht zu. Der Wolf ist bitterböse. Er springt wild umher und versucht sich loszureißen. „Aber Peter hatte das andere Ende des Seils am Baum festgemacht, und je wilder der Wolf umhersprang, umso fester zog sich die Schlinge um seinen Schwanz zusammen“, erklärt der Erzähler. Die Kinder ruckeln auf ihren Sitzen.
Mama ist es flau. Sie guckt auf den Bühnenboden, und der Boden kommt ihr entgegen. Sie bittet um eine Pause und sinkt auf einen Sitz in der ersten Reihe. Der Saal ist leer, abgesehen von Johann, der zwei Reihen hinter ihr sitzt. Mama schlägt die Hände vors Gesicht, wartet darauf, dass der Saal aufhört, sich zu drehen. Auch mein Saal dreht sich. Ich winde mich auf dem Sitz. „Aja, lass uns gehen.“
„Wir dürfen nicht mittendrin raus!“
Sch, macht jemand. Dann noch jemand. Sch.
Schlagzeuge mit gefletschten Zähnen trommeln mir im Kopf, und dann Schüsse.
Drei Männer mit karierten Hemden und großen Flinten marschieren in einer Reihe auf die Bühne. Ich drücke mich fest in den Sitz. „Es lohnt sich nicht mehr zu schießen“, ruft Peter vom Baum herab. „Der kleine Vogel und ich haben den Wolf doch schon gefangen. Helft uns nun, ihn in den Zoo zu bringen.“
„Und nun“, sagt der Erzähler, „stellt euch den Triumphzug vor: Peter vorneweg. Hinter ihm die Jäger mit dem grauen Wolf. Und am Schluss des Zuges der Großvater mit der Katze.“ Ich sehe den Vogel an Seilen von der Decke hängen. „Seht nur, was wir beide, Peter und ich, gefangen haben!“, zwitschert er. „Aber wenn nun Peter den Wolf nicht gefangen hätte – was dann?“, sagt uns der Großvater. Nur Ada geht nicht mit im Triumphzug. „Und wenn man ganz genau hinhört, kann man die Ente im Bauche des Wolfes schnattern hören, denn der Wolf hatte sie in der Eile lebendig hinuntergeschluckt.“
Ada schnattert laut und heiser und weit weg. Sie hört sich an wie eine Hexe. Eine Hexe, die man nicht sehen kann. Die Klänge im Saal schwellen an, als würde das Orchester im nächsten Moment explodieren. Ich halte mir die Ohren zu. Ich sehe zu Aja hin. Sie sitzt auf dem Stuhlrand und bewundert den Triumphzug. Die Lichter auf der Bühne gehen aus. Es wird pechschwarz im Saal. Alle klatschen in die Hände. Sie klatschen immer weiter, stärker und schneller. Auch Aja klatscht ganz schnell. Rote Lampen erleuchten die Bühne. Da schießt der Vogel zwischen den Vorhängen hindurch, tritt als erstes vor und lächelt stolz. Dahinter kommt Ada, und in ihrem Gefolge die Katze, der Wolf, der Großvater und die drei Jäger. Alle stellen sich in einer Reihe auf und verbeugen sich. Dann springt Peter fröhlich vor und winkt uns zum Gruß. Alle winken zurück. Peter, Peter, rufen die Kinder vorne. Er bleibt in der Bühnenmitte stehen, der Großvater, die Jäger und die Tiere hinter sich. Er verbeugt sich, alle klatschen ihm Beifall, und dann verbeugt er sich noch einmal. Ich stehe auf und fange an, mich durch die Reihe zu drängeln, trete den Sitzenden auf die Schuhe.
„Man darf noch nicht aufstehen“, ruft Aja. Ich ignoriere sie. Sie springt auf und jagt mir hinterher. Ich renne zum Ausgang. Der Saalordner macht die Tür auf. „Beruhigt euch, Mädels“, sagt er gereizt. Wir rennen raus, stoßen die schwere Tür auf und stürzen raus auf die Straße. Mama ist nicht da.
„Wo ist Mama?“, frage ich Aja.
„Sie kommt gleich. Sie hat gesagt, wir sollen hier auf sie warten.“
„Mama hat Gift gegessen.“
„Nein, wir sind einfach früh dran. Es ist noch nicht zu Ende.“
Wir stehen auf dem Platz vor dem Theater. Aja schweigt. Dann springen die Türen auf, und Menschenmassen strömen heraus. Eine Aktenmappe trifft mich am Kopf. Ich laufe zwischen den Leuten herum, rufe nach Mama. Aja rennt mir nach und packt mich fest. „Wir dürfen nirgends hingehen. Wir müssen hier warten. Rühr dich nicht vom Fleck“, schreit sie mich an.
„Wir müssen Mama finden.“ Wir bleiben stehen. Die Menschen entfernen sich. Ich meine, den Vogel zu sehen, aber ohne Kamm und ohne Schnabel. Die Frau hat knallrote Lippen. Ich fange an zu weinen. Fremde Leute scharen sich um uns.
„Was ist denn mit den Mädchen?“
„Ich denke, sie haben ihre Mutter verloren.“
„Habt ihr eure Mama verloren?“
„Vielleicht ist sie dringeblieben.“
„Ja, vielleicht sucht sie euch drinnen.“
„Unsere Mama ist nicht hier“, erklärt Aja allen.
„Liebes, wo ist denn deine Mama?“, fragt mich eine Frau mit Strohhut.
„Meine Mama ist tot.“
Chanoch bemerkt den Menschenauflauf und steuert drauf zu. Er sieht uns. „Was ist los, Mädels?“
„Unsere Mama kommt nicht“, sagt Aja.
„Mama hat Gift gegessen“, erkläre ich ihm.
„Kann nicht sein“, blafft Chanoch. „Wo ist sie?“
Die Mama der kleinen Milli taucht auf. Ich habe sie nicht kommen gesehen. „Mama hat gesagt, dass sie euch hier abholt, nicht wahr?“, fragt sie Aja. Die kleine Milli sieht mich weinen. Sie sagt nichts.
„Ja, Mama hat gesagt, wir sollen hier auf sie warten“, antwortet Aja.
„Dann wird sie sicher jeden Augenblick da sein“, versucht Millis Mama zu beruhigen.
Ich gehe auf den Zebrastreifen zu. Leute rempeln mich an.
„Wo läufst du denn hin, komm her“, kreischt Aja und rennt mir nach.
„Ich geh Mama suchen“, rufe ich ihr zu, aber sie schnappt mich und hält mich zurück. Wir stehen in der Sonne und warten. Mama kommt nicht. Ich sehe kahle, schwarze Sterne.
„Ich mach mir langsam Sorgen“, sagt Chanoch zur Mama der kleinen Milli. „Was ist, wenn ihr was zugestoßen ist?“
„Hören Sie auf damit, Sie ängstigen nur die Mädchen“, ranzt sie ihn an. „Macht euch keine Sorgen, Mama wird gleich da sein“, sagt sie zu uns.
Chanoch springt wie der Wolf. „Ich lauf mal, ein paar Telefongespräche erledigen. Geht nirgends hin, okay, Mädels?“ Er entfernt sich. „Macht euch keine Sorgen. Wir finden sie“, ruft er noch und verschwindet in der Menge.
Ein Teil der Leute ist schon nach Hause gegangen. Ein Teil bleibt da, um auf Mama zu warten. Ich will, dass die kleine Milli mich nicht länger angafft.
„Na, wo bleibt sie denn?“, sagt Aja beunruhigt. Da kommt Chanoch zurück.
„Gibt’s was Neues?“, fragt er. Aja macht Nein mit dem Kopf. Die Mama der kleinen Milli wirft ihm einen nervösen Blick zu.
„Ist sie das?“, ruft plötzlich jemand und deutet auf die andere Straßenseite.
„Wo?“, hüpfe ich. Ich sehe nichts.
„Ja! Das ist sie“, ruft Chanoch. Er läuft ihr entgegen und umarmt sie kurz. „Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.“
„Was ist denn passiert? Wo sind die Mädchen?“, fragt Mama erschrocken. Dann sieht sie uns, und wir rennen auf sie zu. Ihr Haar ist offen, fällt ihr ins Gesicht, und sie geht auf dem Bürgersteig in die Hocke und schließt uns in die Arme. Sie hat noch immer Sommersprossen auf der Nase.
„Ist was geschehen?“
„Nein, nein“, sagt Chanoch. „Sie sind ganz heil.“
„Die Mädchen dachten schon, Sie würden nicht kommen“, sagt jemand.
Ich weine und weine, und auch Aja weint ein bisschen, aber leise. „Hört auf, ist doch nichts passiert. Genug geweint“, Mama drückt uns fester an sich. Dann richtet sie sich wieder auf. Ich umarme ihr Bein.
„Sie haben gedacht, Ihnen wäre nicht gut“, erklärt die Frau mit dem Strohhut. Mama beruhigt alle, dass es nichts zu befürchten gibt und dass sie kerngesund ist. Dann sagt sie vielen Dank und alle könnten nach Hause gehen. Die Menge verläuft sich. Nur Chanoch bleibt bei uns.
„Was hast du mich erschreckt, Ora.“ Er bleibt nahe bei ihr stehen. Ich lasse ihr Bein los und trete zur Seite.
„Na, ich bitte dich, Chanoch. Ich wurde ein paar Minuten aufgehalten. Manchmal bist du wie ein kleiner Junge.“ Chanoch senkt den Kopf.
„Ist Ada hier?“, fragt sie ihn.
„Ich weiß nicht, wo sie steckt. Ist sicher schon nach Hause gegangen. Sie läuft hinterher immer gleich weg.“
„Gut. Dann gehen wir mal. Danke, Chanoch“, sagt Mama und gibt ihm einen Kuss auf die Wange, und dann streckt sie mir die eine Hand hin und Aja die andere. „Kommt wieder“, ruft er uns nach. Mama sagt „klar“ und führt uns zum Zebrastreifen. Ich ziehe ihre Hand an die Nase und schnuppere daran. Sie riecht nicht nach Seife.
„Du hast dir die Hände nicht gewaschen.“
„Na, jetzt reicht’s aber. Was soll der Quatsch? Ich verspäte mich zwei Minuten und so ein Aufruhr“, erregt sie sich.
„Aber da ist Gift.“
„Genug mit diesem Schwachsinn. Genug. Da ist kein Gift!“
„Da ist Gift“, wiederhole ich.
„Da ist Gift“, bestätigt Aja. „Ich hab’s auf dem Anschlag gelesen.
„Jetzt reichts’s mit dem Gift“, braust Mama auf. Ich weine und schniefe und fange an zu husten.
„Bitte hört auf damit“, fleht sie. „Wollt ihr, dass wir rote Fingernägel machen, wenn wir im Garten sind?“ Sie hat mir schon mal die Nägel gemacht. Sie hat dünne, rote Blütenblätter von den Geranien abgerissen und uns gezeigt, wie man jeden Fingernagel anleckt, aber ohne zu viel Spucke, und dann auf jeden ein Blütenblatt drückt. Bei ihr haben sie perfekt gesessen. Für mich waren sie zu groß, aber Mama hat gesagt, das würde ganz toll aussehen. Aja schweigt. Sie hasst Spucke. Ich sage, dass ich keine roten Fingernägel will. An den Fingernägeln ist Gift.
Wir nähern uns dem Schuhgeschäft. Ich zerre Mama zum Schaufenster, halte an, gucke. „Was hast du da schon wieder entdeckt?“, fragt sie. Ich deute auf Sandalen. Sie sind grün mit einer lächelnden, blanken Kirsche auf der Schnalle. Sowas habe ich noch nie gesehen.
„Und an den Schuhen ist kein Gift?“, lacht sie.
Ich mache Nein mit dem Kopf. „Kaufst du sie mir?“
„Ich hab dir doch gerade erst die weißen gekauft, die du haben wolltest.“
„Die sind im Garten schmutzig geworden.“
„In Ordnung, aber nicht jetzt. Morgen?“
Sie will auch Aja Schuhe kaufen, aber Aja will nicht. Sie möchte was anderes haben, weiß aber noch nicht, was. „Ich muss es mir überlegen“, sagt sie und kramt in ihrer Tasche. „Es ist noch Geld übrig.“
„Das darfst du behalten“, lacht Mama und zieht uns weiter, Richtung Haus. „Wie war denn ‚Peter und der Wolf‘?“
„Weißt du, dass der Wolf Ada gefressen hat?“, berichtet Aja.
„Wirklich?! Der Wolf hat Ada gefressen?!“, erwidert Mama, als stände sie selbst auf der Bühne, und reißt die Augen auf. „Und was ist Ada, der Gans, passiert?“
„Sie war die Ente“, berichtigt Aja, „zum Schluss ist sie nicht gestorben.“
„Ja, eine Ente“, bestätige ich.
„Wie war sie, gut?“, erkundigt sich Mama. Wir schweigen.
„Ich werde ihr erzählen, dass ihr sie gesehen habt“, sagt sie.
Wir überqueren die Straße. Mamas Hand ist etwas kühl. Mir fällt ein, dass ich die Maus letzten Endes nicht mit Erde zugedeckt habe. Sicher ist ihr jetzt noch kälter. Aber man darf sie nicht anfassen. Oder vielleicht hat sie kein Gift mehr an sich, weil sie fern und kahl ist.
Wir kommen heim. Ich frage Mama, ob ich im Hof spielen darf. Sie sagt, in Ordnung, aber nicht lange. Mama und Aja gehen ins Haus. Die Glastür fällt hinter ihnen ins Schloss. Ich stehe allein da. Ich sehe das Fahrrad mit dem Gift und dem Reifen ohne Luft. Ich gehe in den gestutzten Garten, vorbei an den Geranien und haste zu dem quadratischen Busch. Ich sehe die Grube und nähere mich vorsichtig. Sie sieht kleiner aus als gestern. Ich spähe hinein. Die Maus ist nicht da.
(Seite 7-28)
[1] Alle Zitate entstammen dem Buch Peter und der Wolf von Sergej Prokofjew, Ü. Lieselotte Remané, Beltz & Gelberg, Weinheim 2003.