RUTH ACHLAMA

Literarische Übersetzerin

Hebräisch-Deutsch 

 

 
Die Freundschaft zwischen einer israelischen Malerin und einer deutschen Dichterin – ein ungewöhnliches Buch mit vielfältigem Bezug zu Deutschland und seiner Geschichte:
 
Ruth Almog, Eine Fremde im Paradies, Kinneret, Zmora-Bitan, Dvir, Or Yehuda, 2008, 237 Seiten.
 
Agentin: Nilli Cohen, The Institute for the Translation of Hebrew Literature, E-mail: litscene@ithl.org.il
 
Erster Teil
In den Weinbergen
 
Kismet
 
Zum erstenmal begegnete ich Andrea Weber auf dem Frankfurter Flughafen, an einem sturmgepeitschten Abend Anfang Oktober 1990, als sie das Künstlerhaus in Irmenau leitete.
Das war nach zweiundzwanzig Jahren, in denen ich mir gelobt hatte, dem Heimatland meiner Eltern künftig fernzubleiben.
Hochgewachsen und heiter stand Andrea Weber hinter der Stahlrohrschranke, die Abholer von Ankommenden trennte. Sie hielt ein Schild in der Hand, auf dem in roten Lettern mein Name stand: Patti Wertheim.
Wegen des Sturms kam ich verspätet an. Die Maschine hatte rüttelnd und hüpfend über dem Flughafen kreisen müssen. Der Flugkapitän informierte die Passagiere über Schwierigkeiten beim Landeanflug und bat sie um Geduld. Und ich dachte mir: Würde die Fremde, die irgendwo dort unten auf mich wartete, nicht die Geduld verlieren und einfach nach Hause fahren?
Ich erkannte sie sofort. Sie war so schön wie das Bild auf der Rückseite des Gedichtbands, den sie mir geschickt hatte, erinnerte mit ihrem pechschwarzen Haar, den rotglühenden Wangen und dem unbändigen Funkeln ihrer Augen etwas an das Inbild einer Zigeunerin. Als sie mich umarmte, atmete ich den fremden Parfümhauch an ihrem Hals. Er irritierte die Duftexpertin in mir, denn dieses Parfüm hatte ich noch nie gerochen.
Kismet“, antwortete sie auf meine Frage.
„Was? Schicksal?“, fragte ich, und sie sagte: „Ja, in der Urdu-Sprache, meine ich.“
Unwillkürlich summte ich die Leitmelodie des gleichnamigen Film-Musicals mit Howard Keel und Ann Blyth, das ich in jungen Jahren, Mitte der Fünfziger, gesehen hatte, als es in Israel lief.
Anscheinend kannte auch Andrea das Lied, denn sie begann mit heiserer Stimme zu singen: „La, la, la o... A Stranger in Paradise.“ So standen wir dort mitten in der Ankunftshalle, umringt von Menschen, die Koffer rollten, durch die Gegend rannten, auf ihre Verwandten zuhasteten, einander umarmten, und mir fiel plötzlich der Text ein, und ich erwiderte ihr: „Aber öffne die Arme deines Engels der Fremden im Paradies und sag ihr, dass sie keine Fremde mehr sein muss.“ Und dann sangen wir beide, zwei einander fremde Frauen, die sich gerade erst begegnet waren, mit lauter Stimme: „A stranger no more.“ Einige Leute lächelten, und jemand klatschte sogar Beifall. Als wir ausgesungen hatten, prusteten wir los und fielen uns in die Arme.
So begannen wir die Tour im Sinne des Liedes „Eine Fremde im Paradies“, nach der bekannten Melodie von Alexander Borodin. Ich fragte mich, ob es tatsächlich ein Paradies werden würde. Und als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte sie: „Du wirst sehen, Irmenau ist ein Paradies.“
Anfangs störte mich das Parfüm. Es war bitter, dominant, überspielte listig seine ätzende Süße und war, wie sich herausstellen sollte, Andrea sehr ähnlich. Während ich je nach Gelegenheit das Parfüm wechsle, benutzte Andrea Weber ihr Kismet ausschließlich, bis es nicht mehr hergestellt wurde. Da trauerte auch ich ihm nach, denn so wie mir Andrea gleich auf dem Flughafen gefallen hatte, als sie bildschön und strahlend mit dem Schild in der Hand dastand und mir zufrieden entgegenlächelte, so lernte ich später auch ihr Parfüm zu lieben.
Sie umarmte mich und lachte, und ihr bellendes, heiseres Lachen, das sich etwas männlich anhörte und an einen tuckernden Motor denken ließ, dröhnte so laut durch die Ankunftshalle, dass einige Leute sich überrascht umdrehten.
Wenn Andrea Englisch sprach, brachen ihre Worte in einem unangenehm schrillen deutschen Akzent. Deshalb hatte ich sie bei unserem zweiten Telefongespräch gebeten, zum Deutschen überzugehen. Ich sagte ihr, dass ich die Sprache verstände. Und sobald sie Deutsch redete, konnte ich plötzlich eine Sprache sprechen, die ich jahrzehntelang nicht benutzt hatte. Ich glaubte meinen Ohren kaum und begriff nicht, was geschehen war, als wäre ein Ventil aufgesprungen, als meine Mutter zu mir sagte: „Es sind so viele Jahre vergangen. Ja, warum nicht? Du kannst hinfahren. Die Natur in Deutschland ist herrlich. Aber“, betonte sie, „hüte dich bei Waldspaziergängen vor giftigen Pilzen. Die Verlockung ist groß, weil sie die hübschesten sind.“
Wie beim erstenmal, vor zweiundzwanzig Jahren, wollte ich gern fahren. Aber damals hatte meine Mutter gesagt: „Nein, fahr nicht. Nicht nach Deutschland. Auf keinen Fall.“ Und wie bei vielen früheren Gelegenheiten hatte ich ihrem Willen zuwidergehandelt.
 
Das Stipendium
 
Ich weiß nicht, wer mich empfohlen hatte und wie Andrea Weber gerade auf mich gekommen war. Jedenfalls rief sie eines Tages an und offerierte mir in holprigem Englisch ein Stipendium für drei Monate in dem von ihr geleiteten Künstlerhaus. Ich bekäme das Flugticket, Essensgeld und ein Atelier-Appartement. Einmal pro Woche sollte ich an einem Treffen der Hausgäste teilnehmen. Die einzige Bedingung bestand darin, dass ich am Ende des Aufenthalts eine Ausstellung der am Ort geschaffenen Werke veranstalten und eines davon dalassen sollte. Der Vorschlag klang verlockend. „Es ist hübsch hier“, sagte sie, „inmitten von Weinbergen, nicht weit vom Fluss, und in der Gegend gibt es einen Park mit einem kleinen See. Wenn Sie Landschaften malen, wie mir gesagt wurde, werden Sie hier reichlich Motive finden. Ich selbst mache mir nichts aus Landschaft“, fügte sie hinzu, „ich kann mit Landschaft nichts anfangen. Vielleicht bin ich deshalb Dichterin und nicht Malerin.“
Künftig sollte mir dieser Satz noch oft in den Sinn kommen.
Ich bat mir drei Tage Bedenkzeit aus. Danach rief sie wieder an, und als ich ihr meine Zusage gab, freute sie sich und sagte, sie werde mir eines ihrer Bücher schicken, damit ich einen Eindruck von ihr gewinnen könne. Auf meinen Einwand, dass ich Deutsch nicht lesen könne, erwiderte sie: „Das ist Lyrik. Sie sind Künstlerin und werden schon verstehen.“
 
Groß, schlank, breitknochig, mit honig- und bernsteinfarben blitzenden Augen, bückte sie sich, schnappte mir den Koffer aus der Hand und hob ihn an.
„Du brauchst ihn nicht zu tragen, Andrea“, sagte ich, mein Koffer hat Rollen. Roll ihn einfach.“
Aber sie hörte nicht drauf. Sie wollte den schweren Koffer unbedingt schleppen. Diese Szene wiederholte sich, wann immer ich in Frankfurt ankam, jedes Mal mit einem kleineren, leichter rollenden Koffer, da ich meine Bedürfnisse nach und nach einzuschränken lernte. Aber Andrea ließ nicht locker. Sie musste den Koffer unbedingt tragen, wollte partout nicht anerkennen, dass er Rollen hatte, fühlte sich wohl verpflichtet, eine schwerere Last auf sich zu nehmen, so schwer wie das Schuldgefühl, das ihr vielleicht im Nacken saß.
Sie war zweifellos eine schöne Frau und, wie ich merkte, eine ruhelose obendrein. Sie wirkte überaktiv, nervös, redete viel und gestikulierte heftig. Ihre Fingernägel waren leuchtendrot lackiert, und ihre Frisur stammte sicher von einem Meisterfriseur. Sie wirkte auffallend bürgerlich, war im konservativen Stil gut gekleidet: weiße, hochgeschlossene Seidenbluse, deren Rüschenkragen ihren Hals in weichen Wellen umspielte, gut sitzende schwarze Hose, ein schwarzer Mantel, um den ich sie beneidete, teurer Schmuck, gepflegtes Auftreten – all das passte nicht in das Bild, das ich mir von ihr gemacht hatte, oder zu meinem alten Vorurteil, demzufolge Bourgeois keine Lyrik schreiben können.
So trug sie denn schon bei unserer ersten Begegnung meinen Koffer bis zu ihrem Wagen, der im Parkhaus wartete, und hievte ihn dort in den Kofferraum.
Wir fuhren vom Flughafengelände auf die Autobahn. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Fahrbahn glänzte schwarz vor Nässe. Im Dunkeln sah ich beiderseits der Straße dichte Bewaldung, deren schwarze Bäume die schweren, niedrigen Regenwolken durchbohrten. Das Wageninnere war vom sinnlichen Duft des Kismet-Parfüms erfüllt. Andreas Präsenz überstieg ihre Körperausmaße und umhüllte mich völlig.
 
In den Wäldern
 
Wir fuhren durch die Dunkelheit, in die hier und da grelle Ampeln und hellerleuchtete Riesenschilder platzten, als Andrea unvermittelt mit ihrer heiseren Stimme sagte: „Das Künstlerhaus ist noch geschlossen. Ich bringe dich jetzt in ein Hotel in einer nahen Kleinstadt. Dort wirst du zwei Nächte bleiben. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich habe mich um alles gekümmert. Du wirst umsorgt, wirst dich nicht einsam fühlen. Und übermorgen fahren wir dann zum Künstlerhaus.“
„Geschlossen?“, fragte ich erstaunt.
„Ja, weißt du, im September machen sie dort Urlaub, und erst übermorgen ist wieder auf.“
„Warum habt ihr dann meine Ankunft vorverlegt?“, fragte ich.
„Teils wegen des Tickets. So war es billiger. Und teils, weil ich dich auch erst ein bisschen kennenlernen und mit dir zusammensein wollte. Aber du brauchst es nicht zu bedauern. Es gibt was zu sehen in der Gegend. Morgen Vormittag um elf holt meine Freundin, Roswitha Schmidt, dich zu einem Ausflug ab. Sie ist auch Dichterin. Eine sehr nette Frau, Expertin in der Feldenkrais-Methode. Und am Nachmittag veranstalte ich dir zu Ehren eine kleine Party in meinem Haus. Es kommen ein paar Künstler, mit denen ich dich gern bekannt machen möchte.“
„Warum?“, fragte ich und spürte leichte Verärgerung aufsteigen.
„Wir haben nicht jeden Tag Gäste aus Israel. Die Leute sind neugierig.“
Die Wälder waren dicht und dunkel wie siedender Teer in der Tonne, ehe er aufs Dach verteilt wird, und trotz der geschlossenen Wagenfenster und des dominanten Kismet-Dufts witterte ich den starken Lebenshauch, den sie verbreiteten, konnte mir den untrüglichen, leicht süßlichen Modergeruch der vielen Giftpilze vorstellen und sie sogar im Geiste vor mir sehen, genauso wie sie in den Märchenbüchern abgebildet waren: rote Hüte mit weißen Punkten. Angesichts der Wälder fiel mir ein, was Henry David Thoreau in seinem Buch Vom Spazieren über die Wildgebiete gesagt hatte, von denen die Erhaltung der Welt abhängig sei, und wie jeder einzelne Baum seine Wurzeln ausschicke, um nach Wildnis zu suchen. Er schrieb, er glaube an Wald und Flur und an die Nacht, in deren Verlauf das Getreide wachse, und daran, dass wir den Extrakt der kanadischen Fichte oder des Lebensbaums trinken müssten. Plötzlich erkannte ich, dass meine grenzenlose Liebe zu Bäumen nicht unerklärlich ist, denn sie beruht auf der Einsicht von der überragenden Bedeutung der Wildnis, und ich fragte mich, woher Thoreau wusste, dass das Getreide bei Nacht wächst. Reift das Getreide tatsächlich bei Nacht, so wie der Mensch nachts im Schlaf wächst?
Die nässeschwarz spiegelnden Straßen reflektierten das Scheinwerferlicht des Wagens zitternd und blass. Andrea hielt an einer Tankstelle und kaufte eine Flasche Wasser. Als ich ausstieg, schlug mir die kalte, frische Luft ins Gesicht, erfüllt von unbekannten Düften.
Ich bin in Deutschland, ich bin in Deutschland, dachte ich, und eine unerklärliche Wehmut drückte mir aufs Herz. Nach all den Jahren innerer Ächtung war ich nun doch hierher, in die Heimat meiner Eltern zurückgekehrt, ich, die ich gelobt hatte, nicht wiederzukommen, ich, die ich mich für eine entfernte Nachfahrin des „Rabiah“, Rabbi Elieser Ben Joel Halevi, halte, der wiederum ein Enkel des „Rabbenu Tam“, Jakob Ben Meir, war, für eine Nachfahrin jenes Rabiah, der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts von Bonn aus in den Gemeinden von Aschkenas wirkte. Sein Buch Rabiah enthält die älteste Erwähnung des Brauchs, zwei Kerzen zum Schabbat anzuzünden, und erklärt: „Und mir scheint, was den Gebrauch von zwei Kerzen anbetrifft, dass man bei ihrem Licht essen darf und sie nicht nur zum Zeichen da sind wie das Chanukkalicht... und ferner ist zu sagen, eine für ‚gedenke’ und eine für ‚achte’*... und demnach soll man keine dritte Kerze hinzufügen...“
Er besuchte Mainz und Speyer. Seine Tochter Hanna liegt in Würzburg begraben, wo ihr Grabstein kürzlich entdeckt wurde.
Ich, die ich dieses Land verflucht hatte, bin trotz aller Gelöbnisse zurückgekehrt. Was wird mir diesmal hier geschehen? Werde ich wieder krank heimkehren, wie letztes Mal?
 
Panzer in Prag
 
Unterwegs – meine Augen sind auf die Windschutzscheibe gerichtet, entgegenkommende Autoscheinwerfer tanzen auf der Fahrbahn, blenden, erhellen kurz ein Stück Wald, eine Ortschaft und verschwinden, beleuchten Schilder, die plötzlich auftauchen und zurückbleiben, schmerzlich vertraute Ortsnamen anzeigen, der trübe, niedrige Himmel verschlingt sie wieder – dachte ich daran, wie vor zweiundzwanzig Jahren, als ich trotz des ausdrücklichen Verbots meiner Mutter in Bonn gelandet war, meine Begleiterin mich fragte: „Was möchten Sie bei uns sehen?“, und ich ihr antwortete: „Als Erstes Wald.“
Meine ganze Kindheit über hatte meine Mutter mir vom deutschen Wald erzählt, von den Wanderungen, die sie als Mädchen mit dem Jugendbund unternommen hatte, den Waldbeeren, die sie dort pflückten, Heidelbeeren und Himbeeren und Brombeeren und Stachelbeeren. Sie erzählte mir auch, wie die Waldhexe plante, zwei unschuldige Kinder zu braten und aufzuessen, und von den sieben Zwergen, bei denen Schneewittchen einkehrte.
Der deutsche Wald machte mir Angst. Der deutsche Wald war etwas, das ich sehen wollte.
Meine tschechische Begleiterin und der Fahrer, der mir zugeteilt wurde – ich kam damals als Gast einer staatlichen Einrichtung – unternahmen mit mir dann tatsächlich einen Waldausflug, gleich am Tag nach meiner Ankunft. Ich war mit dem Zug von Basel nach Bonn gefahren, auf der langen Strecke am Rhein entlang, war früh morgens aufgebrochen und hatte die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut. Ich war ruhig, wusste, dass man mich am Bahnhof abholen würde.
Aber als ich in Bonn auf dem Bahnsteig wartete und ihn sich langsam leeren sah, bis ich schließlich allein übrig blieb, bekam ich eine Angstattacke, denn ich hatte nicht mal die Anschrift des Hotels, in dem ich übernachten sollte. Ich war eine schlanke, junge Frau im kurzen weißen Regenmantel, meine bloßen Füße steckten in Absatzschuhen, und ich stand etwa eine halbe Stunde neben meinem großen Koffer und wartete. Der damalige Koffer hatte keine Rollen. Ich konnte nirgends hingehen und harrte aus. Nervös und besorgt wanderte ich den leeren Bahnsteig auf und ab. Plötzlich kam eine Frau im Laufschritt angehastet. Sie atmete schwer und entschuldigte sich fast unter Tränen. „Man kam einfach nicht durch wegen der Demonstrationen“, sagte sie und fing an zu weinen. Eine fremde Frau, die Deutsch mit slawischem Akzent sprach, stand vor mir und heulte hemmungslos.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich.
„Was, wissen Sie denn nicht?“, fragte sie perplex zurück.
„Nein, was ist los?“
„Heute Nacht sind die Russen mit Panzern in Prag eingefallen“, sagte sie, „der Prager Frühling ist beendet, und ich werde nie mehr heimkehren können.“
Erst jetzt stellte sie sich vor.
„Ich möchte die Demonstrationen sehen“, sagte ich.
„Wir fahren zur russischen Botschaft“, erwiderte sie, „ich habe hier einen Wagen mit Fahrer.“
So fuhren wir denn zur russischen Botschaft, ehe ich noch mein Gepäck im Hotel abgestellt hatte. Menschenmassen hatten sich dort versammelt, und die ganze Front des russischen Botschaftsgebäudes war gefleckt von rohen Eiern, die man dagegen geschleudert hatte. Die Menge brodelte. Gelegentlich wallten Gesten der Gewalt auf, und Schreie ertönten an allen Ecken und Enden.
Einige Zeit später fuhren wir zum Hotel. Es stand auf einem kleinen Hügel, ein weißer Bau mit halbrunden Balkons, ein ansprechender Ort. Meine Begleiterin brachte mich aufs Zimmer. Den Koffer schleppte der Fahrer. Er war Theologiestudent und erzählte mir später, dass er Ende des Jahres in den brasilianischen Regenwald fahren wollte, um die Wilden im Christentum zu unterweisen. Vor dem Abschied fragte mich die Tschechin: „Was möchten Sie sehen?“ Ich sagte, „Wald“, und beide lachten.
„Morgen Vormittag machen wir eine Waldtour“, sagte sie.
Es war ein sonniger Tag, und der Wald wirkte nicht bedrohlich. Ich konnte eigentlich nichts Besonderes daran finden. Beeren waren nirgends zu sehen. Auch keine Pilze.
Und jetzt, zweiundzwanzig Jahre später, fuhr ich durch wassertriefende, schwarze Wälder, deren dicht an dicht stehende Bäume beiderseits die Straße säumten. Es war Nacht in Deutschland, und ich wusste nicht, was ich empfand.
 
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